Samstag, 19. September 2015

Eine wahre Geschichte

Vor kurzem war ich bei einem MRT.  Interessanterweise war das Personal dort ausgesprochen freundlich und nett, die Wartezeit sehr angenehm mit 10 Minuten und das alles als Kassenpatientin. Ja man wundert sich ja leider schon, wenn man zuvorkommend behandelt wird, ohne mehrere hundert Euro privat zu bezahlen. 
Aber das ist nicht der Grund, warum ich Euch heute diese Geschichte erzähle. Denn es geht nicht darum wo sich das Geschehen abspielte, sondern wie.

Wegen chronischen Zeitmangels bat ich die Angestellte, dass sie mir den Befund schicken möge, damit ich mir den Weg ersparen kann (vor allem das Parkplatzsuchen und die halsabschneiderische Parkgebühr von 14 Euro). Damit sie meine grauenhafte Schrift nicht entziffern musste, gab ich ihr meine Visitkarte. 
"Was! Sie sind Autorin! Das ist ja wunderbar!", rief sie aus. 
Tja, diese Reaktion freute mich sehr, war aber schon etwas ungewöhnlich. Also wartete ich ab, was da noch so kommen möge.
"Sie wissen sicher einen Rat wie ich meinen Sohn zum Lesen bringen kann. Nichts interessiert ihn in Büchern Was schreiben Sie denn so für Sachen?"
"Also Bücher - naja, das ist klar. Kinderbücher und Thriller", gab ich brav zur Antwort. 
"Also mein Sohn wird Übermorgen 13 Jahre,  vielleicht haben Sie doch einen Tipp".

Mein Inneres bäumte sich wieder einmal auf. Mein Herz stritt mit dem Verstand. Ich wusste, ich hatte eigentlich keine Zeit, weil es mich eh so durch die Arbeit hetzte, aber andererseits ..., das arme Kind ... keinen Bezug zu Büchern .... schrecklich. 

"Also ich habe eine Idee."
Die Antwort auf meine Aussage war ein fragender Blick der Dame hinter dem Schalter.
"Schreiben Sie mir bitte den Namen Ihres Sohnes auf und etwas, das ihm am Herzen liegt und dann bitte Ihre E-Mail-Adresse. Ich schicke ihm ein Geburtstagsgeschenk."

Obwohl ich den Eindruck hatte, dass sie nicht daran glaubte, dass ich mein Versprechen einhalten würde, gab sie mir das Gewünschte. 

Am Weg zum Auto dachte ich mir noch: "Was bin ich doch für ein Trottel, hab ich nicht genug zu tun!"

Aber es ließ mir keine Ruhe und so setzte ich mich noch am selben Abend zum PC und schrieb eine Geschichte und dann ein langes Mail an den Jungen. 
Zwar dachte ich nicht, dass sie die Mutter des Kindes noch einmal melden würde, aber ich wurde eines Besseren belehrt.

Am 18. September, also ca. 10 Tage nach der obigen Begegnung, hatte ich eine Vernissage. Die erste nach 10 Jahren Pause. Alles was schiefgehen konnte, ist schiefgegangen.
Plötzlich stand eine Dame vor mir. Irgendwoher kannte ich das Gesicht, konnte es aber nicht gleich zuordnen. Aber dann ist sie mir um den Hals gefallen und hat sich überschwänglich bedankt. Ihr Sohn hatte so eine unglaubliche Freude über "seine" Geschichte, dass er sie am nächsten Tag sofort in die Schule mitnahm und der Lehrerin vortrug. Und diese Geschichte, die hat er gelesen. Mit der Aussicht auf weitere Leseanfälle. 

Und, damit ihr die Geschichte auch lesen könnt, hier ist sie. Übrigens mit spezieller Genehmigung von Berkay, denn es ist ja seine Geschichte. 


Harry ist einsam

Berkay ist glücklich. Wie der Wind läuft er über den Rasen und genießt das Fußballspiel mit all seinen Freunden und Familienmitgliedern.
Ha! Jetzt hat der den Ball erobert. Links – rechts saust er weiter – immer den Ball vor sich hertreibend. Das Tor bereits in Schussweite setzt er an und schießt.
Weit fliegt der Ball und schnell. Aber zu weit und zu schnell. Völlig verdattert schaut Berkay dem Ball nach wie er fliegt.
„Klirr ...“
Mit einem lauten Knall ist der Ball in dem Fenster des alten leerstehenden Hauses gelandet, das neben dem Fußballfeld steht.
„Na! Du unfähiger Torjäger! Den holst aber du jetzt!“, ruft Berkays Bruder aus und lässt sich – von einem Lachkrampf geschüttelt – auf den Rasen fallen.
Mit einer lässigen Handbewegung geht Berkay in Richtung des kaputten Fensters. Keiner soll ihm ansehen, dass er schon ein klein wenig Angst hat, vor so einem alten leerstehenden Haus. Nicht, weil er Gefahren vermutet, sondern es könnten sich ja irgendwelche Tiere dort angesiedelt haben. Wer weiß, wo die lauern!

Vorsichtig greift er mit seinem Arm durch das zerbrochene Fenster und öffnet mit dem Fenstergriff den Fensterrahmen. Gescheit ist er ja, denn er will sich nicht an Scherben schneiden.
Die Fensteröffnung ist nur einen halben Meter oberhalb der Erde, also kann er bequem einsteigen.
Es dauert ein wenig, bis er sich an das düstere Licht im inneres des Hauses gewöhnt. Sein Ball ist nicht gleich zu sehen, aber in der Stabschicht am Boden die Spuren, die er beim Rollen hinterließ.
Zuerst achtet Berkay nicht darauf, um welchen Raum es sich hier handelt, denn er will weiterspielen und dazu braucht er den Ball.
 Doch der Ball ist unter ein Regal gerollt und so muss er sich bücken, um darunter zu greifen.
„Wenn es regnet, dann könnte ich dich unterhalten“, dröhnt eine Stimme durch den Raum. Berkay erschrickt und fährt hoch. Ängstlich blickt er sich um, aber er sieht niemanden. Nur sehr hohe Regale, von oben bis unten mit Büchern vollgestopft.
„Sicher ist das nur meine Angst, das bilde ich mir ein!“, sagt er zu sich selbst und versucht wieder den Ball zu erwischen.
„Jetzt antworte doch, das ist wirklich unhöflich!“, meldet sich die Stimme wieder.
Berkay schreckt wieder auf und vergisst den Ball vollkommen. Er lehnt sich mit dem Rücken an das Regal. Sicherheitshalber. Damit ihn niemand von hinten angreifen kann.
„Wer ist da?“, fragt er sehr leise.
„Was hast du gesagt?“, kommt sofort die Antwort.
Noch immer kann Berkay niemanden sehen. Aber er hört etwas. Das laute Tack-tack eines Balles, wenn er mit der Hand aufgeschlagen wird.
„Wer bist du?“, fragt Berkay nun lauter.
„Das darfst du erraten, das geht aber nur, wenn du ein wenig gelesen hast. Aber sag mal, das ist ja ein ziemlich großer Ball. Was macht man damit?“
Jetzt erst bemerkt Berkay, dass die Stimme eher zu einem Jungen in seinem Alter passen könnte. Jetzt verändert sich seine Angst in Wut, denn er will den Ball wieder und so wie es aussieht, hat dieser Junge ihn jetzt.
„Gib mit bitte den Ball, ich brauche ihn zum Fußballspielen“.
„Nur wenn du mir zeigst, was man damit macht. Ich kenne dieses Spiel nicht“.
Berkay versucht im dunklen Raum etwas zu erkennen, aber das ist schwierig, da das Licht des Fensters diesen Bereich nicht mehr ausleuchtet.  Doch er kann einen Schatten erkennen, der zwischen den Regalen hervorkommt.
Er zwinkert die Augen zusammen, vielleicht sieht er da mehr.
Ein Junge in seiner Größe kommt näher, er scheint keine normale Kleidung zu tragen, sondern eher so eine Art Umhang. Natürlich schwarz, damit er nicht gleich zu sehen ist, in der Dunkelheit.
Irgendwo hat er den Jungen schon mal gesehen. Es fällt ihm nur nicht ein.
„Also jetzt stell dich nicht so an, du wirst doch Fußball kennen!“, ruft Berkay aus.
„Nein, ich kenn nur Quidditch, aber da ist der Ball kleiner“.
„Das hab ich schon mal gehört, aber ich kann es jetzt nicht zuordnen, na egal, ich zeig dir mal Fußball und dann muss ich zurück, meine Freunde möchte ich nicht warten lassen“.
Der Junge kommt ganz nahe an Berkay und übergibt ihm den Ball. Er hat wirklich einen schwarzen Umhang an. Sehr komisch. Berkay erklärt ihm kurz, was wichtig ist beim Spiel. Dann nimmt er zwei große Bücher aus dem Regal und stellt sie als Tor in den Gang. Gemeinsam spielen sie so ein paar Minuten.
„Jetzt muss ich gehen, es wird Zeit!“, sagt Berkay und will sich verabschieden.
„Das ist schade“, sagt der andere Junge, „es ist still hier, seit die Bibliothek geschlossen hat, keiner will die Bücher lesen. Könntest du nicht etwas tun?“
„Sei beruhigt, mir fällt was ein. Ich komme dich morgen wieder besuchen“.
Der Junge lächelt ihn an, nickt und als Berkay zurück zum Fenster geht, sieht er, wie der Junge immer kleiner wird und in ein Buch schlüpft. Kurz geht Berkay nachsehen, welches Buch das ist. Am Buchrücken steht Harry Potter und der Stein der Weisen.
Kopfschüttelnd klettert er zurück zum Fußballfeld.

In der Zwischenzeit hat es leicht zu regnen begonnen. Alle laufen Berkay entgegen und er sagt ihnen, dass sie in das Gebäude klettern können. Einer seiner Freunde ist sofort begeistert von den vielen Büchern.
„Das könnten wir doch als Schlechtwetterraum nützen! Schau mal, was da alles für Bücher sind!“
Berkay gefällt die Idee, denn er hat ja mit einem der Helden der Bücher Fußball gespielt. Gemeinsam überlegen sie, wie sie den Raum schön gestalten können, denn das Haus wird seit langer Zeit nicht genützt. Wenn sie da ein wenig aufräumen, hat sicher keiner was dagegen.

Es hat sich in den letzten Tagen viel getan. Alle Freunde Berkays haben mit geholfen. Sie haben Staub gewischt, den Boden gefegt und ein altes Sofa angeschleppt. Als Beleuchtung dienen  billige Schreibtischlampen, die Berkays Bruder so umgebaut hat, dass sie den Strom mit Hilfe eines alten Zimmerfahrrades bekommen. So können die Burschen Sport und Bildung kombinieren. Einer fährt auf dem Rad und die anderen haben Licht.
Jeden Schlechtwettertag verbringen sie hier und Berkay hat entdeckt, dass es wohl Bücher gibt, die ihn fesseln. Und hin und wieder, wenn kein anderer da ist, dann kommt Harry aus seinem Buch und sie spielen eine Runde Fußball.